Besuch bei Jonathan Stroud

 
Jonathan und Isabelle Stroud 2008 mit einem von Jonathans selbst erfundenen Spielen

Jonathan und Isabelle Stroud 2008 mit einem von Jonathans selbst erfundenen Spielen (© Maja Smend)

Der Erfinder neuer Welten

Das Bild, das sich dem Besucher unauslöschlich einprägt, ist der erwachsene Jonathan Stroud, der Schöpfer der Bartimäus-Bücher, wie er auf dem Teppich seines Wohnzimmers selbst gebastelte Spiele aus einer großen Box zieht, sie ausbreitet und dabei von seiner Kindheit erzählt. Auch wenn er bescheiden die kreativen Leistungen von damals kleinzureden versucht: Jonathan Stroud muss sich in seiner Jugend ohne Unterlass neue Ideen ausgedacht und sie verwirklicht habe. Eine ungeheure Vielfalt an liebevoll ausgestalteten, bunt bemalten großen und kleinen Kartons, Jetons, Fähnchen, Spielfiguren und sonstigem Zubehör bedeckt bald den ganzen Fußboden. „Als Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich diese Kiste aus dem Speicher geholt“, sagt Jonathan Stroud. Und schon ist man mittendrin in den fantastischen Welten dieses außergewöhnlichen Autors.

 

„Wenn ich nicht Schriftsteller geworden wäre, dann vielleicht Spieleerfinder“

Das Zeug dazu hätte Jonathan Stroud ohne Zweifel gehabt. Aber Leser in über dreißig Ländern der Welt schätzen sich glücklich, dass er heute lieber Bücher schreibt.

Jonathan Stroud mit zehn Jahren

Jonathan Stroud mit zehn Jahren
(© Jonathan Stroud)

Die Qualität von Jonathan Strouds in viele Sprachen übersetzten Romanen hängt auch mit seiner Fähigkeit zusammen, spielerisch packende Handlungsabläufe und Dynamik zu erzeugen. Schon mit acht bis zehn Jahren verfasste er mehrere Geschichten – vor allem unter dem Einfluss Enid Blytons – mit kurzen Kapiteln, an deren Enden jeweils die Leser entscheiden mussten, wie die Story weitergeht. „In der Schule hörten meine Kameraden nach einigen Sätzen auf. Ich hingegen spürte, wie viel Spaß es machen kann, nicht nur Geschichten zu lesen, sondern sie auch zu schreiben und damit vielleicht auch einmal anderen Spaß zu bereiten.“

Nicht ohne Stolz blättert Jonathan Stroud in seinen „Tracker Books“, diesen frühen Schreibversuchen. Nach jeder Seite kann der Leser selbst entscheiden, wie und wo die Geschichte weitergehen soll. Viele Wege führen durch das Buch, das entsprechend viele enden hat, mal gute, mal schlechte, und manchmal gerät man frühzeitig in eine Sackgasse. „Folgen davon sind auch noch in Bartimäus zu finden, in den Fußnoten und Nebenhandlungen“, erklärt er.

 

Ein kreativer Junge

Jonathan Stroud mit zehn Jahren

Jonathan Stroud beim Zeichnen im Alter von elf Jahren
(© Jonathan Stroud)

Jonathan Strouds allererstes „Buch“, eine Detektivgeschichte, in der es schon wie später im Amulett von Samarkand um Edelsteine ging, war so ein „Tracker Book“. Er schrieb und zeichnete es bereits mit acht Jahren (beide Tätigkeiten waren ihm lange Zeit gleich wichtig). Die Leser sollten die Geschichte um den Diamantendiebstahl (The Diamond Theft) nicht nur genießen, sondern waren aufgefordert, die Diamantenkette selbst zu suchen. Strouds Vater motivierte den jungen Jonathan zusätzlich, indem er ohne dessen Wissen die Blätter des geschriebenen und gezeichneten Krimis zwischen zwei grüne Pappdeckel klemmte, leimte und über Nacht trocknen ließ – voraufhin Jonathan auch noch sein erstes Buchcover gestaltete.

In Jonathans Leben folgten bis zu seinem neunten Lebensjahr einsame Phasen, in denen er unter einer Asthma-Erkrankung litt. Damals habe er sehr viel Zeit mit Lesen verbracht. Er bevorzugte Fantasy, weil diese ihm das stärkere Gefühlt der Flucht aus seiner misslichen Lage geben konnte, als dies bei realistischer Literatur möglich gewesen wäre. Zugleich konzentrierte er sich auch auf das Ausdenken immer neuer Geschichten. Im Anschluss daran experimentierte er mit verschiedenen Ausdrucksformen: Comics, Brettspielen, Gedichten oder Theaterstücken.

Mit dem Lektorhut lesen

Jonathan Stroud mit zehn Jahren

Jonathan und Gina Stroud mit ihren Kindern 2008
(© Maja Smend)

Mit großer Offenheit steht Jonathan Stroud Rede und Antwort. Zwischendurch kommt seine Frau Gina mit dem kleinen Arthur auf dem Arm herein. Sie arbeitet als Grafikerin und Illustratorin von Kinderbüchern. Jonathan und Gina haben sich als Mitarbeiter des Verlages Walker Books in London kennengelernt. „Klassisch: über den Fotokopierer“, erinnert sich Jonathan Stroud. Bei Walker arbeitete er nach seinem Studium der englischen Literatur an der York University als Lektor für Kindersachbücher. Seine Mutter hatte ihn auf die Idee gebracht, Kontakt zu Kinderbuchverlagen aufzunehmen. Jonathan Stroud lektorierte Kinderlexika, Geschichtsbücher und sogar eine Kinderbibel (an die er sich später erinnern sollte, denn darin stieß er erstmals auf den Namen Bartimäus).

„Diese Zeit möchte ich nicht missen“, sagt Jonathan Stroud und erzählt, dass er heute noch die ersten Entwürfe seiner Texte sehr emotional und nahe am Geschehen schreibt und dass er erst später alles sehr kritisch und mit Abstand durchliest. „Dann setze ich den Lektorhut auf“, sagt er und beteuert, wie wichtig die Verlagserfahrung, seine Zusammenarbeit mit Autoren, Grafikern oder Herstellern für seine heutige Arbeit ist.

Vier Kapitel in zwei Tagen

Es lief gut bei Walker Books: Schon 1993 veröffentlichte er dort seine ersten eigenen Puzzle-Bücher. Er holt sie aus dem Regal und erzählt, dass auch deutsche Ausgaben davon erschienen sind. Vielleicht gehört diese Eigenschaft zum Imponierendsten an Jonathan Stroud: er steht zu seinen frühen Arbeiten und zeigt und erklärt sie dem Besucher auch gerne. Dabei wird deutlich, mit welcher Begeisterung er schon damals diese vergleichsweise einfachen Bücher konzipiert hat.

Ende der 90er-Jahre veröffentlichte er dann bei Random House London seine ersten Fantasy-Romane. Als die Begeisterung von Verlag und Publikum stetig weiterwuchs, kündigte er 2001 seinen Job, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er heiratete im selben Jahr Gina und wurde Vater von Isabelle. In jener Phase entstanden die ersten 100 Seiten des Bartimäus, ein Stoff, den alle fünf Verlage, denen Stroud ihn angeboten hatte, sofort kaufen wollten.

Jonathan Stroud mit zehn Jahren

Jonathan Stroud mit Schirm in St. Albans (© Maja Smend)

Die Initialzündung ist inzwischen Legende: Stroud lief ohne Schirm mit vollen Einkaufstaschen im Regen durch die Straßen von St. Albans und dachte, er müsse der Harry-Potter-Welt etwas entgegensetzen. Also schuf Jonathan Stroud zeitgenössische, smarte Magier, die ohne Stäbe, Hüte und Bärte, aber mithilfe von Dämonen überall – nur nicht in Internaten – Ihr (Un-)Wesen treiben. Keine echten Zauberer und Zauberschüler eben, sondern Politiker mit besonderen Fähigkeiten stellten die Bösen dar, und ihre Kobolde die Guten. Der Rest – die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Dschinn, das ungleiche Paar Nathanael und Bartimäus, das Verwischen der Grenzen zwischen Gut und Böse – all das ist Geschichte. In nur zwei Tagen schrieb er die ersten vier Kapitel des Amuletts dank der prägnanten Stimme des Dschinn.

 

Persönliche Geschichte(n)

Wir vertiefen uns wieder in seine Kindheitserinnerungen. „ich denke, es ist gut, das aufzubewahren, damit die nächste Generation sich später besser vorstellen kann, was ich so als Junge alles angestellt habe. Es ist also eine persönliche Geschichte, die ich pflege. Vielleicht werden sich meine Kinder Isabelle und Arthur eines Tages darüber freuen.“

Jonathan Stroud mit zehn Jahren

Jonathan bei den Recherchen für Die Eisfestung
(© Jonathan Stroud)

Woher er die Zeit nahm? Ja, vielleicht war er eher ein Einzelgänger. Die ältere Schwester kümmerte sich kaum um ihn, die jüngere war zu jung, um als Spielkameradin infrage zu kommen. Es gab zwar von Anfang an einen Fernseher im Hause Stroud, aber er schaute nicht viel. Und wenn ihn ein Film begeisterte, dann animierte ihn das, eigene Geschichten oder Spiele davon abzuleiten. Mit etwa 14 Jahren erfand er immer komplexere Abenteuerhandlungen. „Die meisten wurden nur ein- oder zweimal gespielt. Dann wurde das nächste Spiel erfunden.“

Als Achtjähriger nutzte Jonathan Stroud ein Schloss in Norfolk als Vorlage für seine Fantasie, für seine Bücher und Spiele; später wurde es die Vorlage für den Roman Die Eisfestung. Vor seiner Bibliothek betrachten wir die verschiedenen Ausgaben seiner Romane. Die russische Ausgabe der Eisfestung ist herausragend – es mag an der Darstellung von Schnee und Kälte liegen.

Jonathan Stroud erzählt eine Anekdote: Ein Archiv namens „Seven Stories“ für Kinderbuchautoren und –illustratoren wurde vor fünf Jahren in Newcastle eröffnet. Jonathan Stroud hatte als Kind das Buch Urn Burial von Robert Westall gelesen und dazu ein Bild gemalt und dem Autor geschickt. Zwanzig Jahre später fand man die Zeichnung wieder im „Seven Stories“-Archiv.

 

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